Als mein Schwager mir erzählte, er habe seine alten Nähnadeln beerdigt, dachte ich im ersten Moment „Der hat sie doch nicht mehr alle!“.
Ryu-chan studierte damals Modedesign in Kyoto und neben Färben und Weben, lerne er auch das Schneidern. Dabei gehörte Nähmaschine, Steck- und Nähnadeln zu seinem täglichen Arbeitswerkzeug.
Was macht man mit den ollen verbogenen und abgebrochenen Nähnadeln?
Wegschmeißen?
Ehrlich gesagt, ich hab mir noch nie Gedanken dazu gemacht, wie ich Nadeln auf besonders wertschätzende Weise entsorgen könnte.
Ich kann mich nicht mal bewusst daran erinnern, jemals in meinem Leben eine Nadel weggeschmissen zu haben. Wenn doch, dann ist sie höchstwahrscheinlich in die Restmülltonne gewandert, zusammen mit ein paar Stofffetzen.
Als mir Ryu-chan nun in allen Einzelheiten von der Nadel-Andacht Hari Kuyō erzählte, hörte sich das plötzlich sehr plausibel an, gar nicht mehr so abwegig und irgendwie sehr japanisch: Eine Gedenkfeier für alte Nadeln.
Passt zur japanischen Liebe zum Detail und die Wertschätzung für alltägliche Dinge, mögen sie noch so klein und unscheinbar sein.
Das Fest für alle gebrochenen Nadeln
Hari Kuyō • 針供養 • die Nadel-Andacht, wird in Japan nun schon seit über 400 Jahre gefeiert.
Damit bedankten sich die Besitzer ein letztes Mal bei den Nadeln und würdigen die harte Arbeit der kleinen Werkzeuge. Ein schöner Gedanke, auch wenn sich das im ersten Moment komisch anhören mag, oder?
Dahinter steckt ein alter Gedanke aus dem Shintoismus, wo nicht nur Lebewesen eine Seele besitzen, sondern auch jeder einzelne Gegenstand seinen Sinn und seine Seele haben.
Kuyo • 供養 ist aber ursprünglich eine buddhistische Feuer-Andacht für alle Gegenstände, die ständig benutzt werden und denen in einer besonderen Zeremonie die letzte Ehre zuteilwird.
Darunter fallen Gegenstände wie Kalligraphiepinsel, der Chasen / Besen bei der Teezeremonie, Küchenmesser, Töpfe oder alte Stäbchen.
Hari • 針 bedeutet übersetzt nichts anderes als Nadel.
Wann wird Hari Kuyō gefeiert?
Das ist abhängig von der Region:
In den meisten Teilen Japans wird das Hari Kuyō am 8. Februar gefeiert.
Westjapan, Kansai und vor allem die Kyoto-Region, die in der Vergangenheit eine große Rolle in der Kimono- und Textilherstellung spielte, feiert am 8. Dezember.
Früher waren das mal zwei wichtige Daten, am 8. Februar begann das landwirtschaftliche Jahr mit all seinen Tätigkeiten wieder und endete am 8. Dezember. Diese beiden Tage galten daher als offizielle Ruhetage von jeglichen Hausarbeiten. Davon ist in der heutigen Zeit aber nicht mehr viel übrig geblieben.
Wer feiert die Nadelandacht?
Alle, die in der täglichen Arbeit mit Nadeln zu tun haben: Design- und Modestudenten und -Studentinnen und alle Schneider, Textil- sowie Kimono-Hersteller und Herstellerinnen.
In festlichen Kleidern und Kimonos bringen sie ihre über das Jahr aufbewahrten alten Nadeln zum Tempel.
Aber auch Privatpersonen, die das Nähen vielleicht nur als Hobby betreiben oder einfach ihre alten Nadeln auf würdevolle Weise entsorgen möchten, dürfen an diesem Fest teilnehmen.
Wie wird Hari Kuyō gefeiert?
An ausgewählten Tempeln einer Stadt oder Region wird ein Stück weicher Tofu aufgestellt.
Hier hinein darf nun jeder seine alten, abgebrochenen, stumpfen oder krummen Nadeln stecken.
Manchmal wird statt Tofu auch Konnyaku verwendet, ein gelee-artiges / gummihaftes Nahrungsmittel, hergestellt aus der Knolle der Knojakwurzel (in dem Artikel über den Konjac Schwamm hab ich darüber schon einmal geschrieben.)
Warum gibt es die Nadelandacht?
Die einen bedanken sich bei ihrem Werkzeug, andere wünschen sich auf diesem Wege, noch besser zu werden im Umgang mit der Nadel.
Wieder andere stecken mit den Nadeln auch ihre Sorgen, Ängste und Probleme des Alltags einfach fort in den weichen Tofu. Die Macht der Gedanken tröstet vielen weitaus mehr als die Gewissheit, die Nadeln am Ende richtig entsorgt zu haben.
Was mit Operationsnadeln und Nadeln von Spritzen in Japan passiert, hätte ich gerne gewußt. Im Tofu habe ich sie bisher nicht stecken sehen. Auch zur Entsorgung von Akupunkturnadeln habe ich keine Informationen finden können. Da sie einer anderen Berufsgruppe angehören nehmen sie nicht an der Hari Kuyo Zeremonie teil.
Was beinhaltet die Zeremonie?
Die buddhistische Andacht wird zu Ehren der Gottheit Awashima no kami • 淡島神 gehalten.
Daher findest die Zeremonie auf jeden Fall in allen Tempeln statt, die der Gottheit Awashima gewidmet sind.
Priester des Tempels bereiten die Zeremonie vor, indem sie Tofu oder weiches Konnyaku bereitstellen.
Im Anschluss wird in Begleitung von den Gebeten / Gesängen der Priester die Nadeln samt weichem Material in der Erde vergraben oder dem Wasser in der Umgebung übergeben.
Verbrannt wird in der Nadelzeremonie nichts, wie es eigentlich bei Kuyo üblich ist.
Wo kann man die Zeremonie selbst miterleben?
Die bekanntesten Orte, an denen die Zeremonie stattfindest sind:
8. Februar
- am bekannten Awashima-do / Senso-ji Tempel in 2-3-1 Asakusa, Tokyo (Webseite)
- Shojuin, Shinjuku-ku,Tokyo
- Egara Tenjin in Kamakura / Prefäktur Kanagawa (Webseite)
8. Dezember (Westjapan)
- Awashima Shrine in der Präfektur Wakayama
- Kokuzo Hōrin-ji in Arashiyama in Kyoto (Webseite)
(Die Empfehlung meines Schwagers, der ja in Kyoto studiert hat. Hier trifft man an diesem Tage viele Studentinnen und Studenten aus der Modeschule.)
Wenn dir ein Kimonoshop über den Weg läuft, kannst du dort einmal nachfragen, wo es die Nadelandacht in der Nähe zu sehen gibt. Die sollten es eigentlich wissen.
Alternativ kannst du auch in der Touristeninformation nachfragen. Dort ist man meistens sehr hilfsbereit und sucht nach einem Tempel in der Nähe (oft nur auf Japanisch im Internet zu finden).
Wie das Hari Kuyo abläuft, kannst du in diesem Video ganz gut sehen:
Wenn du etwas wegwirfst, was dir lange gute Dienste erwiesen hat, bedankst du dich dann bei dem Gegenstand oder landet es einfach im Abfall?
Ich kann die Tradition durchaus nachvollziehen und finde es macht auf der einen Seite auch Sinn. Man kann sich auch mal für kleine Dienste bedanken und gerade im Shintoismus ist der Glaube, dass jedes Ding lebt, ja sehr verbreitet. Allerdings spricht mich der Brauch trotzdem nicht wirklich an. Ich würde mir glaube ich schon recht komisch vorkommen, wenn ich mich bei einer Nadel bedanke und sie dann zum Dank in ein Stück Tofu stecke…
Hallo Sarah,
der Gedanke ist schon komisch, aber wenn ich täglich damit arbeiten würde, dann hätte ich vielleicht eine besondere Beziehung zu den Nadeln aufgebaut. Ich praktiziere das seit Jahren ähnlich mit meinen Stiften, z.B. Wenn die kaputt sind oder nicht mehr schreiben, dann schmeiß ich sie in den Müll, aber nicht, bevor ich mich nicht ordentlich verabschiedet und bedankt habe.
Ach, ich mag Stifte einfach 😉
Das ist eins der Gründe, weswegen ich Japan mag. Sie konzentrieren sich auch auf die ganz kleinen Dinge des Lebens. Da ich selber viel nähe und schon verschiedenen Nadeln achtlos wegwarf, werde ich neu nachdenken.
Im Zusammenhang mit Ikebana hörte ich mal von einem Mönch(?), dass er die Pflanzenteile, die nicht verwendet wurden, in einer kleinen Zeremonie auf den Kompost trug. Ich werde es im Hinterkopf behalten.
In diesem Sinne herzliche Grüße von Renate
Liebe Renata,
Ikebana ist ja wirklich die Reinform von Schönheit der kleinen Dingen.
Das mit den Pflanzenteilen hab ich noch nie gehört. Kann ich mir aber gut vorstellen.
Liebe Grüße
Daniela